15.09.2025
Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof (EuGH) Tamara Ćapeta hat klargestellt: Die EU-Grundrechte-Charta verbietet den Nachweis der Vaterschaft durch postmortale genetische Probenentnahme nicht.
Nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung dürfe ein französisches Gericht ein von einem italienischen Gericht übermitteltes Beweisersuchen nicht ablehnen – selbst dann nicht, wenn das französische nationale Recht die Entnahme genetischer Proben von einer verstorbenen Person zur Feststellung der Vaterschaft aus Gründen der öffentlichen Ordnung untersagt, sofern die betreffende Person zu Lebzeiten keine ausdrückliche Zustimmung erteilt hat.
Ein Mann klagte vor einem italienischen Gericht mit dem Ziel, festzustellen, dass eine verstorbene Person, die in Frankreich beerdigt ist, sein leiblicher Vater ist. Dieses Gericht übermittelte an ein französisches Gericht einen Antrag auf Exhumierung und genetische Probenentnahme vom Leichnam des mutmaßlichen Vaters, gemäß der Verordnung 2020/1783 zur Regelung der gerichtlichen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen im Hinblick auf die Beweisaufnahme.
Unter dem französischen Zivilgesetzbuch darf ein Richter jedoch keine Exhumierung eines Leichnams anordnen, um eine genetische Probe zur Feststellung der Abstammung zu entnehmen, es sei denn, die verstorbene Person hatte dem zu ihren Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt. Dies wird im französischen Recht als eine Frage der öffentlichen Ordnung angesehen.
Um zu entscheiden, ob der Antrag auf Beweisaufnahme abgelehnt werden sollte, rief das französische Gericht den EuGH an.
In ihrer Stellungnahme stellte Generalanwältin Ćapeta fest, dass die Verordnung 2020/1783 es dem französischen Gericht nicht erlaubt, den Antrag auf Beweisaufnahme abzulehnen. Denn hier träfen keine der ausdrücklich in dieser Verordnung genannten Ablehnungsgründe im vorliegenden Fall zutreffen. Dies gelte auch dann, wenn nach französischem Recht die nationale Regelung als eine Frage der öffentlichen Ordnung betrachtet wird.
Blieb die Frage, ob die Ausführung des Antrags des italienischen Gerichts gegen die Charta der Grundrechte der EU verstoßen würde. Dies führte zur zusätzlichen Frage, wie das Recht auf Achtung des menschlichen Körpers nach dem Tod einerseits und das Recht, die eigenen Ursprünge zu kennen, andererseits in der Charta abgewogen werden.
Generalanwältin Ćapeta führt aus, dass das Recht, die eigenen Ursprünge zu kennen, als Teil des Rechts auf Privatsphäre gemäß Artikel 7 der Charta geschützt ist. Gleichzeitig führe ein Vergleich der nationalen Rechtssysteme zu der Schlussfolgerung, dass das Recht auf Achtung des menschlichen Körpers nach dem Tod ebenfalls als allgemeines Prinzip des EU-Rechts betrachtet werden sollte. Die Generalanwältin weist auf die doppelte Natur der Menschenwürde hin, sowohl als Recht als auch als Prinzip, und schlussfolgert, dass das Recht auf Achtung des menschlichen Körpers als Ausdruck der Menschenwürde verstanden werden kann. Ein solches Recht sollte daher bei der Entscheidung, ob eine Exhumierung des Leichnams zum Zwecke der genetischen Probenentnahme zugelassen wird, berücksichtigt werden. Das Recht auf Achtung des menschlichen Körpers sei jedoch kein absolutes Recht, zumindest nicht im gleichen Sinne wie das Recht auf Menschenwürde gemäß Artikel 1 der Charta. Es müsse daher gegen andere Grundrechte abgewogen werden, wie etwa das Recht, die eigene Herkunft zu kennen.
Da der EU-Gesetzgeber (noch) keine Entscheidung darüber getroffen habe, wie diese beiden Rechte im Rahmen der Harmonisierung der Beweisaufnahme in Vaterschaftsfällen abgewogen werden sollen, könnten die italienische und die französische Lösung unterschiedlich ausfallen und angewendet werden, solange die gewählte Abwägung zwischen diesen beiden Rechten nicht die Essenz eines der betroffenen Rechte verletzt. Daher kommt Ćapeta zu dem Schluss, dass die Charta ein Gericht eines Mitgliedstaats nicht daran hindert, unter der Verordnung 2020/1783 die Beweisaufnahme durch postmortale genetische Probenentnahme anzufordern, auch wenn die verstorbene Person zu ihren Lebzeiten keine Zustimmung zu einer solchen Probenentnahme gegeben hat.
Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof, Schlussanträge vom 112.09.2025, C-196/24